Raus aus den Bergen, hinab in das tiefer gelegene iranische Hochplateau, das weiter Richtung Osten in die großen Wüsten übergeht. Wie eine grüne Ader schlängelt sich der Zayandeh Rud durch den kargen felsigen Boden, aus dem sich irgendwann die Stadt Isfahan erhebt. In ihrer mindestens 2500jährigen Geschichte wurden so zahlreiche Paläste, Minarette, Moscheen, ja sogar eine armenische Kirche, Basare und Parkanlagen gebaut, um wochenlang in eine andere Zeit abtauchen zu können.
Doch wir haben zu allererst bzw. immer noch etwas ganz profanes im Kopf: Die Beschaffung von Babygläschen. Bereits in Borujerd hatten wir vergeblich danach gesucht. Man hatte uns aber die Hoffnung gemacht, in Irans drittgrößter Stadt fündig zu werden. Das Projekt „Die Beschaffung von Babynahrung in Gläschen im Iran“ tragen wir in Isfahan nach einer dreistündigen Odyssee endgültig zu Grabe. Ab jetzt machen wir Obstbrei selbst. Basta!
Noch ein Hinweis: Es ist im Iran kein Problem Babynahrung in Pulverform zu bekommen. Viele Apotheken bieten 4 bis 6 Produktvarianten in Büchsen an, unter anderem von Nestlé. Auch Windeln haben wir dort bekommen, allerdings bei weitem nicht so komfortabel wie bei uns in Europa. Der Plastikanteil ist spürbar hoch. Übrigens hatten wir in der Türkei derlei Probleme überhaupt nicht.
Keine Seltenheit scheint hier das Spielen der Kinder in den Parks bis nach Mitternacht zu sein, denn um diese Uhrzeit liegen die Temperaturen knapp unter 30°C. Viele der schon 5 oder 6 Jahre alten Mädchen tragen den schwarzen Tschador. Nicht ohne Stolz rücken sie ihn immer wieder zurecht.
Zugegeben, bei so viel Kopftuchthema in unseren Berichten entsteht schnell der Eindruck, dass wir den Iran auf dieses reduzieren. Für Nikita ist es aber den ganzen Tag unangenehme Realität – hier und jetzt noch mehr als je zuvor. Zu einer anderen Jahreszeit würde sie nicht so viel Anstoß daran nehmen. Aber als Kind freiheitlicher Kultur sorgt ihr unerfülltes Bedürfnis nach freier Wahl der Kleider für fast permanente Frustration. Sie ist nicht mehr bereit, sich als Nichtmuslimin an die Regeln der vom Islam geprägten Kultur und Politik zu halten – doch sie muss.
Bei unserer Ankunft in der Stadt sind wir froh einigermaßen schnell einen übernachtungs-fähigen Parkplatz direkt an der Straße (nicht der offizielle in den Park eingerückte Parkplatz!) zu finden, der am Nachtigallenpark drei Minuten zu Fuß vom Hascht-Behescht-Palast und zehn Minuten von einem der populärsten Orte des Iran entfernt liegt, dem Imam-Platz, eine weitere UNESCO-Welterbestätte. Noch am Abend machen wir uns auf den Weg durch den Nachtigallenpark zum Hascht Behescht. Alle Zugänge zum Park sind mit diesen Schikanen versehen. Von der Hitze, den Geschichten aber auch den Kindern sind unsere Hirne inzwischen so weich geklopft, dass unser erster Gedanke bleibt, dass diese Schikanen dazu dienen, eine kritische Masse – bei Protesten etwa – besser kontrollieren zu können. Auch die Zugänge anderer Orte, wo sich Menschen versammeln können, wie der Imam-Platz, sind damit verbaut. Erst viel später erwägen wir die viel harmlosere Erklärung, dass dies auch schlichtweg dazu dienen könnte, Mopeds und Derartiges von diesen Plätzen fernzuhalten.
Schon Parviz Satwat hat uns die Isfahanis unterkühlter als beispielsweise die Aserbaidschaner im Nordwesten des Landes beschrieben. Vielleicht sind wir aufgrund dessen voreingenommen und empfinden sie genau deshalb so. Vielleicht sind es auch wir, die langsam von den uns einschränkenden Kleidervorschriften bei 45°C unter den selbst gewählten Lebensbedingungen die Nase voll haben und den es daher an Aufgeschlossenheit mangelt.
Der hohe Staubgehalt in der Luft verhüllt die Sonne und verkündet schon sehr früh das Ende eines heißen Tages, obwohl sie noch gar nicht so tief steht. In dieser verfrühten Abendstimmung denken wir eine glühende Stadt zu verlassen. Doch außerhalb Isfahans auf der Autobahn Richtung Teheran machen wir eine sonderbare physikalische Erfahrung. Da wir keine Klimaanlage haben, suchen unsere Arme instinktiv Abkühlung bei heruntergelassenen Fenstern. Noch nie hat uns diese Vorgehensweise enttäuscht. Jetzt schon. Wir können uns das nur so erklären: Die extrem trockene, heiße und schnell vorbeiströmende Luft trägt den für den thermodynamischen Kühleffekt wichtigen Feuchtigkeitsfilm auf der Haut so schnell ab, dass sie die Haut sogleich aufheizt. Wir kurbeln die Fenster schnell wieder hoch, schauen uns an, dann aufs Thermometer: 49,5°C außen, 45,8°C innen um 19 Uhr!
Der aufmerksame Leser darf sich jetzt zwei Dinge fragen. Wie kann es draußen heißer sein als im Auto ohne Klimaanlage? Und: Wie heiß war es wohl gegen 14 Uhr? Nun, in Isfahan standen wir unter schattenspendenden Bäumen und hatten dort alle Einfachfenster (Seitentüren und Front) mit maßgeschneiderten zwei Zentimeter dicken, alubedampften PU-Schaumplatten isoliert, an denen Niklas noch in der Türkei bei Tagestemperaturen von 18°C zum Spott Nikitas gearbeitet hat.
Die Autobahn ist zu unserer Überraschung mautpflichtig. Dummerweise ist uns der Rial ausgegangen, und Geld lässt sich häufig nur in größeren Städten wechseln. Doch an keiner der vier Mautstellen haben wir Probleme ohne zu zahlen durchzufahren. Unangenehm aber angemessen aus Respekt ist nur, dass wir vor jeder Mautstelle das Auto stehen lassen müssen, um vorher den Dienstleistenden unsere Situation zu schildern. In diesen 5 Minuten heizt sich der Fußboden vom Asphalt und dem laufenden Motor (Er sollte laufen, weil die Gefahr besteht, dass der Turbolader gerade bei diesen Temperaturen im Stand nach langen und schnellen Fahrten durchbrennt.) so stark auf, dass wir trotz Bodenisolierung weder barfuß treten noch auf ihm sitzen wollen. Und das ist jetzt nichts für Sicherheitsfanatiker, wie wir Deutschen es sind, sondern für Pragmatiker: Auf längeren Fahrten spielt Nikita mit Estha auch auf dem Fußboden. Ohne Abstriche bei der Sicherheit sind solche Distanzen mit einem einjährigen Kind nicht zu bewerkstelligen.
Wir entwickeln eine regelrechte Hitzevermeidungsstrategie. Die Notwendigkeit dazu kann man nur begreifen, wenn man es selbst erlitten hat. In Sorge diese Nacht wegen der Hitze wieder einmal nicht so recht schlafen zu können, nehmen wir einen extra Umweg in Kauf und steuern am Rande der Wüste von der Autobahn auf Höhe Kaschans südwestlich in die Berge, denn schon bald werden uns keine Berge mehr zur Seite stehen. Leider haben wir kein ausreichend detailliertes Kartenmaterial, auch praktisch schon lange kein Internet mehr, um Google Maps bemühen zu können, und unser Navi hat für den Iran nur noch ein zu grobes digitales Höhenmodell, so dass wir beinahe navigationsblind und im Dunkeln einen Weg hinauf suchen. Das Ende der Route vom 30.06.2011 zeugt von diesem Irrweg. Und so kommen wir nicht das erste Mal Mitten in der Nacht im Irgendwo an und scheuchen Hunde und nichtsahnende Dorfbewohner auf, um dann zu realisieren, dass die Bemühungen um eine erholsame Nacht umsonst waren. Wegen der hohen Temperaturen sind einige Schlauchanschlüsse der Druckwasserleitung undicht geworden. Es ist auch nicht das erste Mal, dass Niklas bis tief in die Nacht (3:30 Uhr) arbeitet oder schreibt und nicht das erste Mal, dass wir nächsten Tag schlafwandelnd unterwegs sind – eigentlich ein Dauerzustand.
Am nächsten Morgen ringen in uns Erschöpfung und Neugier. Auch wenn sich unsere Neugier durchsetzt und wir die Wüstenstadt Kaschan besuchen, ist die Erschöpfung immer an unserer Seite. Hätten wir in der Wikipedia vorher diesen Satz gelesen: „Durch die tiefgelegene Lage kann sich Wärme innerhalb des Tals aufstauen und die Sommer besonders heiß werden lassen.“, hätten wir ganz bestimmt anders entschieden, gerade auch, weil wir dort wieder kein Geld wechseln werden. Doch gut so, denn sonst hätten wir nicht das Khane-ye Boroudjerdiha mit dem wohl schönsten Bagdir (Windturm) Kaschans gesehen. Wir hätten auch nicht mit einem Muezzin allein in einer Moschee verbracht, während er ein viertelstündiges Gebet ausruft.
Uns treiben, ja hetzen zwei Umstände weiterzufahren. Das ist der Termindruck, zu Elias Einschulung sechs Wochen später in Berlin zu sein und die Erlösung, die uns der 5610 Meter hohe Damavand oder vielmehr das ihn umliegende Elburs-Gebirge mit dem nördlich anschließenden Kaspischen Meer verspricht. Wir sind erstmals in Vorurlaubsstimmung!
Unser Bargeldproblem lösen wir erst am Flughafen südlich von Teheran. Das isolierte Land will sich am Tor zur Welt nicht blamieren und stellt hier mobiles Internet in endlich brauchbarer Geschwindigkeit zur Verfügung. Seit drei Wochen haben wir keinen Kontakt mehr zur Heimat. Jetzt wird das nachgeholt. Erwartungsgemäß findet auch hier eine neugierige Seele den Weg zu unserer Wohnmobilie. Erstmals sprechen wir mit einem Iraner, der hinter der politischen Führung seines Landes steht. Nach den Torturen, die wir immer noch erleben, nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund und sagen geradezu was wir vom gegenwärtigen Iran halten. Er wollte das wissen.
So nah sind wir dran und lassen es doch links liegen: Teheran. Noch in Täbris wurden wir gewarnt, dass man für die Durchquerung des Teheraner Großraums mit dem Auto einen Tag veranschlagen sollte. Und das bei diesen Temperaturen? Niemals! Auf dem Weg zum Damavand ist es aber unvermeidlich diesen Moloch zu streifen. Es dauert nicht lange, da fahren wir auch schon stop-and-go. Dann lassen wir auf einer imposanten Schnellstraße entlang des Elburs-Gebirges den 13-Millionen-Großraum zügig hinter uns, um kurz darauf in einer einspurigen Warteschlange aus Blechkisten die Berge hinaufzukriechen bis der ganze Zug einfach steckenbleibt. Wir haben die Nase voll, reißen aus, versuchen auf eigene Faust mit Hilfe von Google Maps (ja, wir haben manchmal noch Internetreste) eine Umgehung zu suchen, bleiben aber kläglich in einer Sackgasse stecken. Den zweiten Ausreißversuch starten wir mit zwei Einheimischen, die uns mehrfach versichern müssen, dass sie einen Weg kennen und dass unser Fahrzeug ihn auch bewältigt. Es wird ein so noch nie erlebter Präzisionshindernislauf durch mit den Bergen verwobenes Siedlungsgebiet. An der Tankstelle vorhin wurden wir noch übers Ohr gehauen (auch eine verwirrende Geschichte), davor haben wir viel zu viel für einfachen Kebab mit Reis gezahlt. Längst ist es dunkel, die Siedlung hinter uns, von der Hauptstraße nichts mehr zu sehen und der Weg unheimlich. Da beschleicht uns das Gefühl der Angst, dass wir hier eine richtig fette Beute darstellen. Unsere Eskorteure sind zu fünft, männlich, jung, hatten Einblick in unser Auto und fahren jetzt auf zwei Autos verteilt vor und hinter uns. Wir gehen, doch jeder für sich, mögliche Szenarien im Kopf durch.
Erst als wir wieder auf die Passstraße stoßen, atmen wir auf und bedanken uns – für Westeuropäer – überschwänglich. Doch das Schneckentempo geht weiter. Dieselruß (neudeutsch: Feinstaub) liegt in der Luft. Wir sind inmitten gigantischer Berge, doch sehen nur soviel wie der Lichtkegel der Frontscheinwerfer hergibt – einen winzigen Ausschnitt. Die nächste Abbiegung ist unsere, bleiben direkt an der Straße mit Quellwasser stehen. Es liegen 452,5 iranische Kilometer hinter uns. Schluss! Aus! Feierabend!